Zweimaltot – Beat Glogger (Buchbesprechung) [i]

Ich habe mir nun termingerecht das Buch “Zweimaltot” von Beat Glogger vorgenommen. Meine Buchbesprechung, Review oder Rezension hier verrät allerdings Einzelheiten über den Ausgang (Spoiler Alert).


(C) Copyright Reinhardt Verlag

Das Buch gibt es hier:

Frank, ein Neurowissenschafter, der mit seiner Assistentin Tina Neuroprothesen baut, wird von deren autistischem Bruder Christoph angegriffen und so stark verletzt, dass er zunächst mit Locked-in Syndrom im Spital landet, dort dann mithilfe von Neuroprothesen kommunizieren lernt, bevor sein Gehirn ganz seinem Körper entnommen wird und nur noch durch neuroprothetische Verfahren mit der Umwelt kommuniziert, worauf sich Dinge zutragen, aufgrund deren Christoph wiederum zur Tat schreitet und diesesmal das Setup mit Franks Hirn samt Anschlüssen so zerschlägt, dass das, was von Frank noch übrig war, gar nicht mehr zu retten ist. Tina und Christoph fliehen ins Exil. Das Buch beleuchtet also, wie ein Mensch (hier: Frank, ein Neurowissenschaftler, der selbst an Neuroprothesen arbeitete, gemeinsam mit seiner Assistentin Tina), nach einem ersten Angriff und schweren Verletzungen mit Locked-In Syndrom unfaehig, selbst zu reden, seine Kommunikationsprothese dazu verwenden kann, die Situation, in die er sich auch auf eine Art selbst etwas gebracht hatte, aus der er das erste Mal angegriffen und schwer verletzt wurde (Angriff durch Christoph, Tinas Bruder, einen Autisten), ein zweites Mal aufleben zu lassen (indem er dann als auf ein Gehirn reduziertes Laborwesen mithilfe der Neuroprothesen wieder Äusserungen macht, was zu Konsequenzen führt, die den Anwesenden inakzeptabel zu sein scheinen, sodass erneut Christoph in Aktion tritt), um dieses Mal tödlich umgestossen zu werden. Damit der Titel des Buchs, Zweimal tot, der sich fraglos auf die Vita des Frank beziehen könnte – aber in uebertragenem Sinne, sozusagen losgeloest von einer allzu physikalisch anfassbaren Ebene, durchaus wenigstens auch auf das Leben des Christoph (der Autist, der Frank zweimal angreift, das erste Mal mit der Konsequenz schwerster Verletzungen und Locked-In-Syndrom, das zweite Mal, indem er die Aufbauten von Franks Hirn in Naehrloesung und angeflanschten Neuroprothesen umstoesst), oder der Tina, der dadurch stark mitbetroffenen Schwester Christophs und Mitarbeiterin des allenfalls etwas arroganten Neuroforschers Frank.

Eine eher trockene analytische Sicht auf die Geschichte zeigt, dass der autistische Täter Christoph (256x im Text genannt, ich hatte mir bei Amazon das eBook gekauft, da kann man sowas einfach nachzählen) gegenüber der Hauptfigur des innovativen, arroganten und kontroversen Neurowissenschaftlers Frank (794x im Text genannt) in Hinsicht auf die Zahl der Namensnennungen massiv zurückbleibt, aber im Vergleich zur eigentlichen Erzählerin Tina (116x genannt) im Vordergrund steht. Das oft mit Ablehnung belegte Wort Autismus (Suchbegriff «autis*»: nur 3 Nennungen im Text) ist entsprechend dieser sozialen Abwertung im Text dagegen völlig untervertreten, was interessant ist, da es die übergeordnete Hauptthematik darstellt. Der Autor koennte das Schlagwort, das Schluesselwort, das Stichwort, das hier in jedem Sinne vorkommende Hauptwort “Autismus” etwas skotomisieren – eine Vermutung, die sich bereits erbsenzaehlerisch begruenden liesse. Mithin könnte man vermuten, dass eine intensivere Präsenz der Tina gefordert gewesen wäre, und dass bei geschätzt 700 (statt 116, wie hier) Namensnennungen von Tina deren Verflechtung mit Christoph und dessen etwas impulsiven Attacken zu einem weniger dramatischen Outcome geführt hätte. Auch das Zurücknehmen der Projektionsfigur Frank – immerhin nimmt er in dieser Geschichte eine teilweise ungebührliche zentrale Stellung ein – hätte einem glücklicheren Ausgang der Geschichte wohl nicht geschadet – aber, der Erzähler der Geschichte erzählte diese Geschichte auch bewusst, gewollt, auf diese (und nicht auf eine andere) Art. Damit ist in der Geschichte bezüglich ihres Schwerpunkts, des Fokus, ein gewisses Ungleichgewicht – es handelt sich am ehesten um ein Anprangern, wobei aus der Geschichte letztlich unklar bleibt, von was genau. Unjd deswegen ist diese Geschichte zu lesen, zu interpretieren, in einen Kontext zu setzen.

Ein Tötungsdelikt oder eine schwere Körperverletzung bleibt eine schlimme Sache, ganz unbeachtet der Frage der individuellen Einsicht oder Schuldfähigkeit. Eine Gesellschaft muss sich solchen Fragen annehmen, ob sie will oder nicht – und ob der Geschichtenerzähler will oder nicht. Hier zeigt die erzählte Geschichte einen möglicherweise nicht sicher korrekten Umgang besonders seiner Schwester Tina mit der schwer von aussen steuerbaren Impulsivität und gefühlten aber nicht im Gesamtrahmen gestützten Richtigkeit der Empfindungen und Handlungen des Autisten Christoph: er hat aus einer gesellschaftlich ordnenden und schützenden Sicht weder in dem delikaten Laborbereich der Forschungseinrichtung, noch am Krankenbett des dann schwerverletzten und später als Gehirnkonserve neuroprothetisch versorgten Frank, etwas zu suchen, solange er impulsiv Leute angreift und solange er impulsiv Dinge umwirft. Man hätte ihn vor der Last der Taten, die er dann beging, und das Opfer vor den Folgen dieser Taten, relativ einfach schützen können – auch wenn das hier wenigstens zunächst gar nicht die Absicht war: dem Geschichtenerzähler war ja gerade an diesen Komplikationen gelegen. Nicht alle Sinneseindrücke aus den Bereichen Labor, Arbeitsplatz generell, Spital oder Krankenbett sind für den durchschnittlichen Zeitgenossen problemlos zu ertragen. Überhaupt ist die Abgrenzung, das Ausgrenzen und Ausschliessen, ein bis heute wirksamer Schutz vor allerlei Unbill, der weiterhin Wichtigkeit haben wird, aber zu dessen Nutzen erst gegen Ende dieser Erzählung und dann notgedrungen gefunden wird, gefangen im Exil sozusagen kommen Tina und Christoph erst (zu) spät zur Ruhe. So ein Schutz kann aber auch viel früher, vor bösen Taten, also fürsorglich, vorausschauend, vorhersehend, vermutend, befürchtend oder sogar bereits wissend stattfinden, oder auch in Rückblick auf Erfahrungswerte implementiert werden. So schützen sich Amputierte vor befürchteten oder bereits erlebten und erfahrenen Übergriffen durch manche übergriffige Prothesentechniker oder manche respektlose Forscher, indem sie sich gar nicht mehr dort herzeigen, ohne dass ich jetzt, wenn ich einmal mehr entscheide, mal wieder irgendwo nicht mitzumachen, dies selbst als besonderen Mangel sehe. Sobald die in uns Versuchskaninchen suchenden Forschenden oder Entwickelnden zu einer Art neuen unverhofften Respekts gegenueber Armamputierten gefunden haben, dann werden sie wohl Wege finden, uns auch ihren jähen Sinneswandel irgendwie mitzuteilen, sie sind schliesslich auch nicht behindert. Durch Ausgrenzung sogenannter Nichtbehinderter generell und uebergriffig daherkommender Individuen im Besonderen aber vermeidet man als Person mit Handicap eskalierende Probleme recht effektiv, vor allem, wenn man einmal das Risikoprofil des Gegenuebers etwas kennt. Denn der Dialog, das Gespräch, löst nicht alle Probleme. Auch schützen sich Forscher, etwa in der Armprothetik, vor der unerträglichen Nähe oder Begehrlichkeiten von Amputierten, oder auch wenn wir mal geschwitzt haben [was bei staendigem Tragen der Prothesen fast stets etwas mehr ist als sonst (wickeln Sie sich doch mal ihren Arm mit Gummi ein, 200 Tage im Jahr zu 13 Stunden, und schreiben Sie mir ein Mail wenn sie damit durch sind, wie das so war, für Sie, Haut, schwitzen, etc. ?)], indem sie statt echten Behinderten Simulatoren und Virtuelle Realitäten verwenden, um ihre Forschungsergebnisse und die daraus resultierenden Behauptungen zu belegen. Das praeventive Sich Voellig Aus Dem Weg gehen ist inzwischen sogar Programm geworden, mehr dazu unten. Von solcher vorsorglicher, behutsamer Praevention in diesem Buch aber keine Rede – erfreulicherweise, möchte man sagen, da die Geschichte sich sonst nicht so zugetragen hätte.

Eine Gesellschaft, die mit der Entwicklung von Prothesen inklusive Neuroprothesen die Normalisierung Behinderter anstrebt, stellt diese Behinderten damit auch gleichzeitig als weniger menschlich dar (siehe Einträge zum Thema #voightkampff). Dies schlägt sich sogar typischerweise auf die Haltungen der Forscher (hier: Frank) nieder: die Forscher haben fast zwingend eine abschätzige Haltung aufzuweisen, um das allzu anthropomorph perfekte Menschenbild wieder und wieder, unter den verschiedensten Aspekten, den von mangelhafter Anthropomorphie betroffenen Behinderten überzustülpen. Die geradezu besessene «Forschung» im Bereich der myoelektrischen Armprothesen hat in den letzten 40 Jahren nachweislich den Grad der Myoelektrik-Signal-Erkennung nicht verbessert (der Trend ist sogar eher rückläufig und bleibt in einem für Alltagsanwendungen untauglichen Verlässlichkeitsgrad), so dass es aus der Sache heraus gar nicht die effektiv manipulatorische greiftechnische Funktion sein kann, welche hier den Gegenstand der forscherischen Auseinandersetzung darstellen kann. Vielmehr ist es das Aufdrücken einer besonders menschenähnlichen Erscheinung (bei Armprothesen: lieber zwei handähnliche Geräte als besonders verlässliche Funktion), welche den Impetus darzustellen scheint. Gepaart mit einer nur ungenügend versteckten Ablehnung der Art, des Wesens und des Aussehens Behinderter gelingt es den Forschern damit mitunter kaum, effektive Wege zu besserer Rehabilitation zu finden. Ich würde sogar sagen, dass man ohne das abschätzige Betrachten von Leuten mit nur einer Hand es gar nicht übers Herz bringen kann, ihnen dann jahrelang funktionsarme handförmige Ankerteile zu bauen, in der völligen Überzeugung, das sei irgendwie nötig oder sogar gut. Durch das Ansammeln von Labor- und Anwendungstechniken mutiert dann so ein Forscher rasch zum “Spezialisten”, der – was das Zusammenstecken von Elektrodenkabeln angeht, beispielsweise – mitunter ein ansehnliches Repertoire an Fähigkeiten ansammelt. Aus dieser Fähigkeit bezieht er den Anspruch auf Respekt. Das Buch leuchtet dieses Spannungsfeld der Haltungen auf sehr interessante Weise aus.

Die Finanzierung und die wirtschaftlichen Aspekte sind gerade bei Prothesen, und besonders bei den besonders tiefe Verkaufszahlen aufweisenden Armprothesen, ein geradezu wesentlicher Faktor. Gerade wenn wirtschaftliche Aspekte schwer oder gar nicht realisierbar sind, bleibt nur das Fördern des Egos, so dass die Szene der Forschung und Entwicklung von Hilfsmitteln schon lange in diesem Spannungsfeld stattfindet. Dass es letztlich das Ego eines solchen Forschers ist, dass als einziges von ihm übrig bleibt, wird in diesem Buch plakativ inszeniert. Dabei ist in der Szene der Ingenieure selbst nicht jeder der Auffassung, dass “homo faber” so zu verstehen sei, dass insbesondere das Ego des Forschers oder Entwicklers vorrangig Geltung zu haben hätte, und Behinderte das dann auszubaden haben, etwa, indem sie zur Legitimation herhalten: ein namhafter Robotikforscher sagte mir einmal, dass Maschinenbauer und Ingenieure nur dann eine Handprothese als Symbol für ihr Tun verwenden, wenn sie keine besseren Ideen für Industrieforschung haben. Die Handprothese gelte bei Insidern der Robotik auch als Zeichen des Versagens: es gäbe dort letztlich technisch und finanziell nichts zu holen, oder, dann nur marginale Gewinne. Das hat mit den teilweise unlösbaren technischen Grenzen zu tun, die dort existieren, damals gut veranschaulicht am Cybathlon 2016: Bei myoelektrischen Armprothesen ist die Hand zu schwer, wenn die Greifkraft gut ist, ansonsten ist sie zu schwach. Die dementsprechend zu schwach motorisierten Hände erfordern extrem dünne Schutzhandschuhe, die dann sehr rasch zerreissen, da dickere Schutzhandschuhe von den schwachen Motoren kaum oder gar nicht bewegt werden können. Die Steuerung durch Myoelektrik selbst ist höchst fehleranfällig. Sie steigt bei Schweiss ganz aus, aber die einzigen Tätigkeiten, wo man mit Armamputation den Asymmetrieausgleich zur Schonung des anderen Arms, des Nackens und Rückens wirklich braucht, sind typischerweise schweisstreibende Tätigkeiten. Die Signalqualität am Armstumpf ist auch deswegen stets schlecht, weil die noch vorhandenen Muskeln jahrelang stillgelegt und dadurch atroph und mit Fettgewebe durchwachsen sind. Verwendet man zur Signalableitung nur die Muskelbereiche am Unteramstumpf mit besonders hoher Signalstärke, landet man an Stellen am Armstumpf, an dem Beibewegungen, Körperhaltungs- oder Armpositionsänderungen ebenfalls die Steuerung der Hand beeinflussen und so ungewollte Störsignale senden. Um das Problem der Fehlersignale einzudämmen, muss der Schaft die Elektroden daher möglichst exakt platzieren, was nur durch Reduktion des Komforts gelingt; so wird die Fehlerquelle der Ellbogenbewegung dadurch reduziert, dass man den Ellbogen in seiner Bewegung durch das Hochziehen des Schafts stark einschränkt. Der ideale myoelektrische Schaft ist daher besonders eng, und schränkt die Beweglichkeit des Ellbogens ein. Ist der Schaft weiter, oder wird ein Liner verwendet, ist der Kontakt der Elektroden mit der Haut weniger verlässlich. Der Konstruktion einer Prothesenhand sind auch greiftechnisch enge Grenzen gesetzt, so dass Greiffehler eine alltägliche frustrierende Erfahrung darstellen. Umfassend sind diese Problem in unserem letztjährigen Artikel dazu erläutert (link – Open Access). Daher stellt nach wie vor die Eigenkraftprothese (Kabelzug) die um mehrere Zehnerpotenzen genauere, massiv weniger fehlerbehaftete Steuerung dar, die zudem bedeutend bequemere Schaftkonstruktionen erlaubt. Der Split-Hook ist die auf besonders brauchbare Greifwinkel und Greiffunktion reduzierte Skelett-Variante eines am häufigsten vorkommenden, nützlichsten Griffs, und lässt an Reduktion von Gewicht, Robustheit durch Metallkonstruktion, Langlebigkeit und zuverlässige Steuerung aus Anwendersicht wenig zu wünschen übrig. Ist gerade keine schwere oder repetitive harte Arbeit nötig, so ist der Alltag ganz ohne Prothese am angenehmsten, bequemsten, funktionellsten und auch kostengünstigsten, wenn man die häufigste Amputation (einseitige Unterarmamputation) betrachtet. So oder so ist die Armamputation ein Zustand, der visuell mit den Mitmenschen verhandelt wird, wobei üblicherweise diesen die Aufgabe zukommt, sich zu benehmen und Übergriffe zu vermeiden. Umgekehrt ist am Aussehen kaum was zu machen: entweder hat man keine, oder eine klar als diese erkennbare Prothese an. Je funktioneller man unterwegs ist, umso weniger sieht das Gerät aus wie die menschliche Hand. Man muss begriffen haben, dass der Transhumanismus selbst den Sprung in die Anerkennung dieser Realitäten nie schaffte; wo der Transhumanismus sonst das Verlassen der menschlichen Form, der anthropomorphen Nachempfindung, als veraltet betrachtet, findet man in diesem Themenbereich zu Armprothesen nur Visuals, Bildhoffnungen, Darstellungen und Vorstellungen von übertechnologisierten Handformen. Damit ist die richtige Reaktion auf dieses Spannungsfeld ein vorsichtiges Resignieren und die Konzentration aufs Wesentliche.

Eine Behinderung fordert uns als anwesende Mitmenschen (das Wort enthält es ja) auch heraus, indem sie uns abverlangt, uns selbst zu entwickeln, und allenfalls andere Haltungen, Ansichten und neue Umgangsformen zu entwickeln – wie der Autor in Bezug auf die Beziehung zu seinem eigenen autistischen Sohn zur Kenntnis brachte: stellt man sich den Fragen, ist die Möglichkeit, dass man daran reift. Es sind den Möglichkeiten der Rehabilitation aber, wie nun dargelegt, vor allem apparative Grenzen gesetzt. Aber das muss kein Problem sein. Patrick van der Smagt, den ich vor Jahren an der DLR in Oberpfaffenhofen traf, der damals schon ambitionierte Bioprothesenforschung betrieb, sagte mir beim gemeinsamen Mittagessen im Kloster Andechs, dass nach wie vor die mit Abstand beste Lösung für eine Behinderung wie meine (Unterarmamputation rechts) sei, sich gelegentlich von Mitmenschen bei kleinen Dingen etwas helfen zu lassen – und nicht, die Prothetik in ihrer Unfähigkeit, Lösungen zu bauen, mit zu grosser Hoffnung zu belegen, da diese dies kaum oder gar nie erreichen werde, was immer man ihr auch in modernen Märchen andichtet. Ich habe seither zunehmend Leute – meine Frau, Freunde, Mitarbeiter, Nebenstehende, Sitznachbarn – gefragt, ob sie mir etwa eine Flasche öffnen, oder, eine Packung aufreissen. Schwer zu öffnende Verpackungen brachte ich in Läden auch schon zum Kundendienst, anstatt damit meine Prothese zu beanspruchen. Extrem kostengünstig, extrem nachhaltig, extrem funktionell. Auch dieses Buch impliziert mit seiner Geschichte, dass Neuroprothesen Grenzen haben, schreckliche Grenzen sogar – nur: wer Prothesen versteht, wirklich versteht, wird nie vermuten, dass sie Behinderte zu besseren Menschen macht (verdammt, ist dieser Satz doppeldeutig?). Damit kann die Geschichte in diesem Buch keine wundersame Wandlung eines Franks erhoffen: was passierte sind auch irgendwie Zwangsläufigkeiten.

Nun, der Weg in ein Miteinander ist der einzige Weg in ein Miteinander, dieser Weg – der ins Miteinander – führt nicht zwingend über das übermässige Gelten von Prothesen oder Gadgets: sie sollen Mittel zum Zweck bleiben. Es ist ein Miteinander, das zwingend gemeinsam gegangen werden muss. Dabei ist der Weg behutsam und kompetent zu gehen, die Besonderheiten und Grenzen, Schwierigkeiten und Möglichkeiten, sind vorsichtig zu diskutieren und gemeinsam zu beleuchten. In diesem Buch ist die taktvolle, lückenlos sorgsame Heranführung des Autisten Christoph an die Neuroprothese des umstritten dargestellten Forschers Frank der hier klar fehlende Akt. Und wenn das nicht funktioniert – nicht alle Leute können sorgsam herangeführt werden, nicht alle Leute sind zu einem pfleglichen und respektvollen Miteinander in der Lage -, dann stellt sich die Frage nach fürsorglichen, schützenden Schranken, Grenzen, nach erhöhter Distanz, nach Abstand und nach klarer Abgrenzung.

Der Behinderte hat nun die Klarheit um Umstände und Integration zu einem grossen Teil in sich. Es ist an ihm, sich darin zu finden und auch zu äussern. Das nimmt auch mir niemand ab. Während beispielsweise alle Forschung zu Phantomschmerzen nach Armamputation das Hirn als Ursprung vermutet, während seit Jahrzehnten nun die Technik das fMRI des Gehirns mit allerlei «Ergebnissen» feiert und dort in Dingen sucht, die kaum eine Therapie erlauben, stelle ich fest, dass meine Realität auch hier etwas anders ist. Passend zu Studien vor Jahrzehnten stelle ich bei mir fest, dass mein Phantomschmerz stark mit der Hauttemperatur am Stumpf korreliert – bei gleicher Umgebungstemperatur. Mein Armstumpf hat schlechte Zirkulation, so dass das Komprimieren das Problem der Stauung vermindert. Damit sinken die Phantomschmerzen rasch auf einen geringen Bruchteil der initialen Intensität. Der Prothesentechniker weiss dies, dort erhielt ich auch Masskompressionsstrümpfe dafür. Die Invalidenversicherung (IV) weiss, wie wirksam diese sind, sie bezahlt diese Strümpfe. Aber R&D wurstelt mit unbeirrbaren fMRI-Studien in eine völlig andere Richtung, arbeitet mit eingebildeten Signifikanzen, und erhofften – aber kaum umgesetzten – Therapiephantasien. Man vermutet, dass sensorisches Feedback die Phantomschmerzen behebt, und stützt sich dabei auf neurologische Vermutungen, die aus dem fMRI stammen. Ich war Teil eines Forschungsprojekts, und im Rahmen dieser Versuche liefen meine Phantomschmerzen völlig aus dem Ruder. Die Forscher glaubten mir das allerdings zunächst gar nicht, da sie ihrer eigenen Idee mehr Vertrauen schenktem als einme Behinderten, der vor ihnen sass und vor sich hin litt. Was dort gebaut wird, ist eben auch immer wieder das Abbild einer aufwendig illustrierten Wirklichkeit für Nichtbehinderte. Dies riskiert damit, eine völlig andere Welt zu sein. In diesem Buch prallen diese Welten fast unvermittelt aufeinander, ohne dass die Vermittlung besonders augenscheinlich, oder im Konzept der Neuroprothese, oder etwa durch besonders bewusste Heranführung und entsprechenden Diskurs, integriert, wird. Darin liegt ein sehr relevantes Spannungsfeld, aus dem die Geschichte dieses Buchs Energie für ihre Stimmungen bezieht.

Auch der Umgang mit möglichen, bereits heute verfügbaren Hilfsmitteln ist und bleibt ein Miteinander. Dieses musst aber erst erreicht werden, Rehabilitation mit Prothesen ist nichts, das auf Knopfdruck funktioniert. Der Behinderte muss den Weg in die Möglichkeiten und relativ engen Grenzen selbst ausloten, denn das Produkt, die am Anwender wirklich funktionierende Armprothese, kann man nicht einfach so kaufen. Der Prothesentechniker ist in diesem Prozess eine Schlüsselfigur. Die Kombination der Komponenten, die Ausführung, musst der Behinderte mit dem Techniker selbst bewerten und verbessern lernen. Die Mitmenschen sind gehalten, diesen Weg ebenfalls mitzumachen. Ohne tatsächliche Auseinandersetzung geht das nicht, und das ist letztlich für alle Beteiligten sowohl anstrengend wie auch, wenigstens potentiell, förderlich. So ist etwa ein Setup, wie der Cybathlon 2016 zum Testen von Armprothesen aufstellte, einer Rehabilitation nur dann förderlich, wenn der Amputierte diesen Parcours zunächst ohne Prothese, dann anschliessend mit unterschiedlichen Modellen oder Varianten, vergleichende Abläufe durchführen kann, wobei diese besonders auch qualitativ zu bewerten sind. Dass die Veranstalter auf einen Schauprozess mit Ausstellung der Amputierten setzten, ist ihrer “Forschermentalität” zuzuschreiben, nicht dem, dass ich es nicht versucht hätte. Damit leistet der Cybathlon gerade eben keinen Beitrag zur Rehabilitation: das eigentliche Potential, ein Miteinander zu erzeugen, wurde aufs brillianteste vermieden. Schlimmer noch: inzwischen werden Amputierte für ein Schulprojekt unter “Material” aufgeführt – wir sind Material, das man zum Anstarren und Anfassen bei Cybathlon bestellen kann. Die Tragweite dieser Art Zynik ist beachtlich, schliesst aber an die universitäre Zynik, (auch “nur” körperlich) Behinderte pauschal als Beispiel für permanent Urteilsunfähige zu nennen, nahtlos an. Während derartige Ansichten von Zeitgenossen schlicht entsetzlich sind, darf man ihnen zum grossen unweigerlich vorauszusetzenden Mut, auch heutzutage zu derartig ausserordentlichen Grundansichten so klar und offen Stellung zu beziehen, gratulieren. This shit takes real balls. Auch dieses Buch zeigt hier leider keine Vision in der Richtung, eine besonders sorgsames Miteinander im Verlauf der Geschichte zu erreichen – vielmehr wird ein unvermitteltes tragisches Aufeinanderprallen geschildert. Daher finde ich auch weiterhin die Lektüre von beispielsweise Neuromancer (William Gibson) erleuchtend und inspirierend, da dort das Wesen von prothetischem Wahrnehmen, Handeln und Sein auf eine viel stärker brummende Art, auf einen umfassend hautnahen Kontakt mit Technologie, beschrieben wird. Überhaupt finde ich ja das Thema Neuroprothetik, vielleicht in ähnlich pragmatischer Lowtech-Weise wie ich es bei Armprothesen erlebe, sehr spannend. Als ein Onkel von mir etwa 1983 an ALS erkrankt war, hackte ich meinen C-64-Computer, lötete einen grossen leichtgängigen Lichtschalter dran, und so konnte mein Onkel durch betätigen des Knopfs mit seinem Kopf das von mir geschriebene Programm, welches ein durchlaufendes Alphabet darstellte (ich hatte bildschirmfüllende Buchstaben und Steuerzeichen programmiert, für gute Lesbarkeit), zur Kommunikation verwenden, und uns Dinge mitteilen, derweil wir stundenlang bei ihm waren und allerlei Dinge redeten. Die Sachen, die er uns mitteilte, waren für uns alle grossartig. Es war ein sehr enges Miteinander, das mitnichten so seltsam oder konfrontativ war, wie die Beziehungen, die in diesem Buch dargestellt waren, obwohl mein Onkel natürlich auch durch eine technische Interfacelösung mit uns kommunizierte. Der Cyberspace, vor allem wenn man ihn als Schnittstellenbegeisterter feiert, hat sehr viel positives zu bieten. Dies aber ist keine Buchbesprechung von Neuromancer oder eine eigene biografische Darlegung. Eher geht es um die Prothetik als Erweiterung unserer selbst.

Denn dieses Buch hat nicht das sinnliche Erleben tief im Cyberspace, verkabelt bis über die Ohren, in der Kunstwelt auflebend und die Situationen bis zum Anschlag ausreizend, zum Inhalt. Es ist im Grunde auch kein Buch über Prothesen oder Neuroprothesen. Es will vielmehr ein Buch über Menschen sein, über unterschiedliche Menschen. Am Ende steht in diesem Buch, wie als Erklärung für das Ganze in seiner Entstehung und Konsequenz dargelegte Schlamassel, dass ein Gehirn ohne Körper eine Maschine sei, Es ist eine Schlussaussage des Buchs, dass das Gehirn ohne Körper eine Maschine sei. Damit gemeint ist wohl aber vor allem, dass dieser Aspekt schlecht sei, mitgesagt wird, dass dieses Gehirn ohne Körper, das losgelöste und mit Neuroprothesen versorgte Gehirn sozusagen, andere – richtige – Menschen überfordert, insbesondere in zunehmendem Fehlen der Einsicht in körperliche Grenzen oder Umstände. Mitgemeint ist sicherlich auch, dass diesem Hirn ohne Körper ein gewisser Teil von Empathie fehle, wobei in dieser Erzählung die Beobachtungszahl n=1 bleibt und es sich auch im wissenschaftlichen Sinne bestenfalls um eine anekdotische Einzelbeschreibung handelt. Diese Sicht ist in sich aber auch partikulär, einseitig, stark anthropomorph und antropozentrisch, und überfordert nicht nur die Buch dargestellten Mitmenschen, die ob der zunehmenden Schroffheit der Äusserungen des als Hirn im Labor festgesetzten Frank entsetzt sind, sondern gleichermassen Frank, dem in diesem Buch als isoliertes Gehirn existierendem Wesen, der nur deswegen an Neuroprothesen angeschlossen wurde, um sich äussern und um sehen und hören zu können und dessen Einschränkung letztlich nicht einmal diese ist – sondern seine unverhandelte, teilweise tyrannisch ausgelebte, nicht in einer Metaebene ausreichend zerzauste Beziehung zu sich selbst und zu anderen. Behinderte sind eben auch das: unfähige, böse, ungeduldige, fordernde, übergriffige, seltsame und ansonsten in jeder Hinsicht individuelle Persönlichkeiten. Anstatt still das Krankenzimmer zu verlassen, lässt sich Tina zu ausufernder Teilhabe hinreissen, und anstatt fernzubleiben, drängt sich dazu ihr autistischer Bruder Christoph auf, und die Situation eskaliert, es kommt zur Tötung von dem wenigen, was von Frank übrig ist. Ohne fehlende Grenzen, ohne vorsichtigen und behutsamen Umgang mit den Methoden der Kommunikation, sind keine gemeinsamen Wege möglich, und die Wahrscheinlichkeit von Eskalationen steigt – stets. Man käme selber drauf, und damit ist dieses Buch eine weitere, hervorragende Gelegenheit, sich diese äusserst allgemeinen Zusammenhänge anschaulich zu vergegenwärtigen.

Überhaupt ist der Vorwurf, der dem Neurowissenschaftler Frank, der Forscherfigur mit Vision und Arroganz, gemacht wird, wie auch in diesem Buch, allenfalls eine unzulässige Trivialisierung. Immerhin schafft und implementiert Frank, wie in diesem Buch ausgeführt wird, durch seine Arbeit und sein Werk auch eine ganze Menge Macht. Diese Macht, wie man heute vielleicht auch sagen könnte: Biomacht – äussert sich unter anderem in einer Technologieleistung, die absolut beachtlich ist. Das droht in einer allzu stark vereinfachenden Trivialisierung etwas unterzugehen. Wer solche Macht ausübt, ist darin auch sehr verletzlich, der Machthaber kann dies nur durch den Ausbau der Macht abwenden, und wird dadurch nur noch verletzlicher. Hierzu bietet dieses Buch als Schaukasten grosser Verletzlichkeit des Machtanspruchs genügend Reflektionsfläche. Aber nicht einmal die Überzeugung, man sei Gott, kann diesen verhängnisvollen Prozess aufhalten (Anne Springer, Alf Gerlach, Anne-Marie Schlösser  (2005): Macht und Ohnmacht). Darin enthält jede Machtposition auch paranoide Prozesse, die man aufs anschaulichste an solchen Vorgängen anheimgefallenen Zeitgenossen studieren kann. Der Ausdruck “Kadavergehorsam” deutet gerade auch darauf hin, dass es sich im Grunde um eine bereits vorher tote, leblose Welt handelt. Diese Innensicht einer Macht in seiner Schräglage darzustellen ist aber keine besondere Leistung dieses Buchs – das ist andernorts bedeutend besser vertieft, wer dies weiss, erkennt es allerdings hier auf Anhieb wieder. Hierzu könnte man andere Literatur, wie etwa Walter Vogts “Wüthrich”, herbeiziehen. Dies aber ist keine Buchbesprechung von “Wüthrich”: diejenigen, die Macht haben, ausüben und sie ausbauen, sollten es besser wissen – so der Trivialglaube, dem wir uns nun blind anschliessen wollen. Und genug ist genug – nicht jeder Täter soll auch gleich sofort schon Opfer sein dürfen, wenn es Rollen wie Täter und Opfer gibt, so wird hier die unzulässige Vereinfachung der Reduktion auf eine Rolle geübt, wo es doch so viel verworrener schöner sein könnte. Das Gehirn ohne Körper ist laut Aussage in diesem Buch “eine Maschine”, das lassen wir so mal als Schlussaussage stehen.

Was mit dieser Schlussaussage nicht explizit gesagt aber unterstellt wird, ist, dass auch das nicht-behinderte Gehirn «ohne» behinderten Körper gegenüber dem Behinderten, dem behinderten Körper, zur seelenlosen, empathiefreien Maschine zu verkommen droht. Aus meiner Sicht stimmt auch mit dieser implizierten Vermutung zwar die Intention, die Richtung, auch diese Vermutung scheint nicht ganz falsch zu sein: aber das Wort «ohne» ist hier sehr viel genauer zu präzisieren, um ausreichend aussagekräftig zu sein. Denn aus Erfahrung stimmt es nicht ganz – immerhin benehmen sich viele Nichtbehinderte auch dann in irgendeiner Art als vielleicht anteilweise seelenlose oder empathiearme Maschinen, wenn sie von Behinderten umgeben sind, oder sogar, wenn sie sich eine 3D-Brille oder einen Armprothesensimulator anziehen. Oder gerade dann. Ich könnte Namen nennen, ich weiss sogar, wo deren Haus wohnt. Nichtbehindert-Sein ist nicht per se mit besserer Einsicht, noblen Motiven oder respektvollerem Umgang verbunden – es gibt sehr viele, richtig grobe Rüpel, da darf man sich nichts vormachen. Aber eventuell sind diese Leute sich dieser Umstände nicht stets bewusst. Allenfalls sitzt man neurologischen Mechanismen zwischen eigener Seele und Körper auf. Denn Körperliches generell hat oft etwas Tyrannisches, es ist unveräusserlich, das Körperliche ist in sich unverhandelbar, und auch kaum vermittelbar – und abgestimmt, abgewogen, vorsichtig gesucht, wird da selten bis nie. Das Körperliche ist in seiner Wesensbeziehung zum Selbst rationalen Argumenten typischerweise vermutlich kaum zugänglich, es ist der integrierten Steuerung durch die Kommandozentrale Hirn unterworfen, und dort werden Kommandos eben oft als Befehle gegeben, der Körper hat sich zu unterwerfen. Nichtbehinderte riskieren daher, ihre eigenen axiomatisch verorteten Devisen zur Körperlichkeit auch Behinderten vorzuschreiben, überzustülpen. Ueberraschenderweise finden dann bei Armamputation und Prothesen gelegentlich unterwürfigste Umkehrreaktionen statt, Leute, die besonders gute und unterwürfige Cyborgs sein wollen, die diesen Körpervorschriften besonders gut Folge leisten wollen: manche Behinderte werfen sich da im Sinne eines Stockholmsyndroms den “anthropomorphen Erpressern” an den Hals und gehen in der Pantomime auf. Das muss auch gar nicht schlecht sein, solange man sich des potemkinischen Versuchs reflektierend bewusst ist. Es gibt Armamputierte, die das Tragen einer dysfunktionalen überteuerten iLimb oder Bebionic-Hand sogar als Inspiration feiern, sich selbst – etwa wie Joshua Clark- gar als “bionic man”1 feiern lassen, oder ihm etwa diese Masche nachzumachen, ohne aber ihr eigenes Brot im Schweisse ihres Angesichts durch harte ehrliche Arbeit zu verdienen (was ja mit diesen Prothesen gar nicht geht), derweil der normal arbeitende Servicedienstleister weiterhin zur schweren Arbeit nichts als den Eigenkrafthaken (body powered split hook) hat, auf den dann durch die feinen Herren ausserdem nach Kräften herabgespuckt wird. Meist stehen dahinter sehr tiefe Ängste – was wir aber ebenfalls nicht trivialisieren wollen: nurmehr entsetzt auf anscheinende Unmenschlichkeit der Täterschaft solcher abschätziger Haltungen zu reagieren, greift zu kurz. Sie bezeichnen modernste Greiftechnologie mit Eigenkraft als böse, ordnen es dem “Captain Hook” zu – haben dabei nicht einmal näherungsweise gleichwertiges, geschweige denn besseres, an Greiftechnologie vorzuweisen. Als Behinderte “spielen” wir aus Sicht dieser Personen “eine Rolle”, als Behinderte sollen für diese Leute im Umgang mit unserem Handicap “unterhaltend sein”. Natürlich stimmt da etwas sehr Profundes nicht, natürlich sind das auch irgendwo Hilfeschreie. Dabei soll es aber nicht auch noch meine Aufgabe sein, allfällige Angststörungen oder andere Verirrungen bei Mitmenschen einschliesslich anderen Armamputierten zu beheben, die sich durchaus in Unsicherheiten wie allzu unbewältigtem Technologisierungsdrang oder dem ständigen Herabschauen auf Behinderte äussern könnten – was wir also als eigenes Thema lieber gar nicht erst weiter benennen. Dazu kommen allerneueste Tendenzen, nachdem der Cybathlon 2020 Armamputierte mit “bionischen” Armprothesen öffentlich vorführen lassen will, wie sie Nägel einhämmern (wobei man sich auf den Finger hauen darf) oder Glühbirnen in die Lampenfassen schrauben (wobei die Anleitung zum Wettbewerb sogar erläutert, was bei Zerbrechen einer Birne passieren soll) – während typischerweise Hersteller dieser Prothesen sämtliche Manipulationen mit Verletzungsrisiko unmissverständlich ausschliessen (siehe Touchbionics / Ossur und die Dokumentation zum iLimb; dies wurde mir auch auf Rückfrage bestätigt). Indem also der körperliche Mangel durch schlechte anthropomorphe potemkinsche Anmutungen keineswegs ausgeglichen wird, soll diese Wahrnehmung durch den Heroismus des Verbotenen aus dem tiefen Schlamm gerissen werden: hier stockt der Atem des Technikers, des Technikbegeisterten, des Technikfreunds und des wahren Ingenieurs. Wir sind weit, ganz weit, weg von Rehabilitation: hier will sich das inhärent Unzulängliche durch die Blutspur von Glasscherben freihämmern, freibluten. Damit wird also in diesem Aktionsbereich unbestritten die Tyrannei des intakt vorgeturnten Körperbilds instrumental sein, wobei ja auch dieser offenbar tabuisierte Elefant im Raum nicht benannt werden will – die zur Verkörperung von Prothesen Berufenen schauderten bei der Präsentation genau dieser Sachlage. Es öffnet sich bei der Evaluation einer “bionischen” Handprothese (die ja mit Verlässlichkeit bei echter Arbeit gar nicht funktionieren KANN [link, link]) mithin ein enormes Spannungsfeld zwischen Symbolik und Nichtstun (im Sinne Thorstein Veblens) auf, das den Rahmen dieser Buchbesprechung ebenfalls sprengen würde, aber ein Hinweis auf die Unlösbarkeiten im Versuch eines Miteinanders darstellt: nicht jeder misslungene Versuch, das Anliegen des Gegenübers zu verstehen, darf sofort in der völligen Selbstaufgabe und im Stockholmsyndrom enden. Nur weil manche Amputierte oder (schlimmer) Nichtbehinderte das Fehlen manueller Funktion einer Armprothese nicht als Mangel empfinden, da sie schwere Tätigkeiten nicht selbst verrichten, nie verrichteten, keinerlei eigenen Bezug dazu haben, ist es nicht zulässig, dass sie die Vorherrschaft des praktisch manuell Nutzlosen plötzlich für alle fordern oder implementieren wollen – oder, quasi als Beweis von Dingen die wir nie abfragten, nun dazu übergehen, unzulässigerweise diese filigranen Schauprothesen zum Zerdrücken von gläsernen Glühbirnen oder dem Zerhämmern der “gesunden” Hand zu verwenden. Und nicht allen Nichtbehinderten ist Folge zu leisten, wenn sie einem sagen, zieh erst eine “bionische” Hand an, bevor Du mit mir redest – denn bei diesem Spiel mitzumachen ist auch nicht ohne Nebenwirkungen und Risiken. Augenhöhe ist in sehr umfassender Weise anders.

Was vielmehr nötig ist, ist das sich aufeinander Einlassen, das Ermöglichen eines Miteinanders, auf Augenhöhe. Auf Augenhöhe! Das lässt sich weder alleine durch Nebeneinandersitzen, durch miteinander Tun, oder durch zeitgleiches Erscheinen generell erreichen. Dazu ist tiefere inhaltliche Beschäftigung und Auseinandersetzung nötig, wobei bei der Auseinandersetzung das Tabuthema der Unzugänglichkeit des tyrannisch unterworfenen Körpers, des umgekehrt den Geist auch tyrannisch unterwerfenden Körpers, ans Licht zu zerren, um dann förderliche und weniger förderliche Fragen zu Ansichten, Haltungen und Umgang besser zu beleuchten. Da das aber oft nicht geht, da es auch torpediert und boykottiert wird, ist Abgrenzung, Ausgrenzung – auch von Nichtbehinderten aus den Kreisen Behinderter – praktizierte Realität. Manche tiefen, einsichtigen, langfristig angebahnten Dialoge zur Wahrheitssuche in der Behinderung, in der Projektionsfläche, in den Vermutungen und Wünschen, enden richtigerweise damit, dass die vermuteten tiefen Abgründe noch tiefer sind als zunächst befürchtet. Dialog leistet auch dies: die gemeinsame Einsicht, dass da kein Miteinander ist, sein wird, sein kann. Und während ich mir hier noch die Mühe gebe, diese Fragen zu reflektieren, kenne ich Armamputierte, die umfassend härter, rascher, gröber, krasser sind, was ihre eigene Ausgrenzung von derart sonderbare Haltungen vertretenden Personen angeht.

Wäre Frank als behinderte Person (die Existenz eines Menschen nur als ein Gehirn mit neuroprothetischem Anschluss ist sicher eine höchstgradige Behinderung) hier in der Geschichte dieses Buchs etwas wählerischer gewesen in der Art und Weise, wie er seine Bekanntschaften auswählt, wäre Tina als Schwester und Beiständin des Autisten Christoph in ihrer Wahl der Situationen, in denen sie Christoph mitnimmt, zulässt, umsichtiger, fürsorglicher, verantwortungsvoller, nicht so distanzlos gegenüber Arbeitsplatz (erster Tatort) oder Krankenhaus (zweiter Tatort) gewesen, wäre die Geschichte wohl anders ausgegangen. Aber man kommt erst mit der Zeit drauf, solche Vorstellungen müssen reifen. Frank war sicher mit den sich überstürzenden Ereignissen überfordert, und er überschätzte Tinas Fähigkeit darin ebenso.

Und so endet dieses Buch ohne Überraschung in der Ausgrenzung, in der Auswanderung, am Ende der Welt sozusagen. Es prangert an, und seilt sich dann ab, ohne fürsorgliche Distanzierung nach vertieftem Dialog und Situationsüberprüfung in der Frage nach der kontrollierten Beziehungsfähigkeit des Autisten Christoph zu ihrem im Grunde zugangskontrollierten Arbeitsplatz oder dem äusserst heiklen Setup in der Intensivstation des Spitals. Und es überlässt uns die konstruktive Interpretation, den Versuch des Dialogs, die eigenen Spannungsfelder in ein Gleichgewicht zu bringen, aber auch das rechtzeitige, das schützende vorhersehende und fürsorgliche Ausgrenzen.

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Footnotes

  1. Erster Eintrag von Joshua Clark a.k.a. J Michael Clark auf https://www.instagram.com/jcbionic/: 5. Juni 2016; auf https://www.facebook.com/JCBionic/: 12. Mai 2016. Andere Benutzer, die sich ebenfalls Bionic Man nennen: Michel Fornasier https://www.facebook.com/YourBionicman/: erster Eintrag 22. August 2018; Music-Band Bionic Man: https://www.facebook.com/officialbionicman/ – erster Eintrag 30. September 2010; weitere Musikerseite Bionic Man: https://www.facebook.com/BionicManMusic/ mit Ersteintag 16. November 2014

Cite this article:
Wolf Schweitzer: swisswuff.ch - Zweimaltot – Beat Glogger (Buchbesprechung) [i]; published 09/04/2019, 13:15; URL: https://www.swisswuff.ch/tech/?p=9570.

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